von Paul Hengge

Inszenierung: Ute Richter

Vorstellungen: 98   Besucher: 8.342

Darsteller: Werner Galas, Harald Heinz, Jochen Ballin, Gerlind Eschenhagen

Bei einer Zwischenlandung auf dem Weg von New York nach Hamburg erlebt der Antiquar S.Rabinovicz eine Reihe von Überraschungen. Auf Bitten einer Hostess hat er seinen Platz in der Anschlussmaschine einem Unbekannten überlassen. Zum Dank erhält er ein Erster-Klasse-Ticket für den Flug am kommenden Morgen und ein kleines abgegriffenes Buch vom Anfang des Jahrhunderts. Es ist die Ausgabe der zweisprachigen Haggada, die er seit über vierzig Jahren gesucht hat. Die Zeit bis zum Morgen kann Rabinovicz in der VIP-Lounge des Airports verbringen. Dort trifft er auf einen Fremden, einen etwa gleichaltrigen Mann, der ihn in ein Gespräch hineinzieht, das sich wie ein Netz um einen Mordfall legt. Es ist der Mord an einem englischen Milliardär, den ein deutscher Verleger begangen haben soll. Wolf , so der Name, soll Hamilton, der ihn in den Ruin getrieben hatte, auf einem Kreuzfahrtschiff beim Einlaufen in den Hamburger Hafen erstochen haben. Rabinovicz ist unterwegs zum Prozess: er ist der wichtigste Zeuge der Anklage. Der Fremde in der Lounge hegt eine geheimnisvolle wie leidenschaftliche Anteilname an diesen Fall, an dem augenscheinlich schuldigen Verleger Wolf. Das Streitgespräch kreist bald um die Schwierigkeiten bei der Suche nach Wahrheit und Lüge und Gerechtigkeit…

Diese Geschichte ist ein verdecktes Verhör, dem sein verstörendes Ende den Glanz der Intimität verleiht, und ein unsichtbares Tribunal, vor das jeder Mensch gerufen werden könnte; sie ist ein Tunnel in die Finsternis der deutschen Vergangenheit, an dessen Ende doch Licht ist, und die Zeugung einer Wahlverwandschaft zwischen zwei Männern in den wilden Reden der Nacht. (FAZ)

Bilder

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Kritiken

Rhein-Neckar-Zeitung 26/27 Oktober 2002

Bohrende Fragen in der Vip-Lounge

Mit kriminalistischem Gespür: Paul Hengges „Das Urteil“ im Heidelberger Zimmertheater

Von Volker Oesterreich

Je schärfer der Blick, desto genauer die Erkenntnis: Der jüdische Antiquar Rabinovicz weiß das nur zu genau. Wenn er sich auf etwas ganz besonders konzentrieren will – wie etwa auf seine geliebte Haggada, der er jahrzehntelang nachgejagt ist, dann setzt er sich eine zweite Brille auf die Nase. Aber nicht nur diese religiöse Schrift, die ihn an seine Familie und die eigene Kindheit in Nazi-Deutschland erinnert, fordert seine ganze Aufmerksamkeit; was Rabinovicz in der in kühlem Chic eingerichteten Vip-Lounge eines Flughafens bewegt, ist zugleich der eigene Denkprozess. Sein Blick ist dabei selbstquälerisch nach innen gerichtet, und auch dafür bedarf´s offensichtlich der doppelten Augengläser. Vielleicht helfen sie ja dabei, all die Rätsel zu lösen, mit denen sich auch der Zuschauer im Heidelberger Zimmertheater konfrontiert sieht.

Fragen über Fragen tun sich auf in Paul Hengges Stück „Das Urteil“. Die als Fernsehspiel preisgekrönten Dialoge appellieren an die kriminalistische Neugierde des Publikums. Lange wird man im Unklaren gelassen, welche wahren Beweggründe einen ominösen Fremden dazu veranlassen, Rabinovicz bei seiner Reise von New York zu einem Mordprozess in Hamburg zu überreden, auf den direkten Anschlussflug zu verzichten und sich in ein Gespräch mit einem zwar freundlichen, aber undurchsichtigen Fremden verwickeln zu lassen. Rabinovicz ist der Hauptbelastungszeuge. Zu dem Zwischenstopp lässt er sich mit besagter Haggada ködern. Genauer: mit einer jener seltenen zweisprachigen Ausgaben, die 1900 in Breslau gedruckt wurden. Nur wenige Exemplare konnten Überlebende des Holocausts mit in die Neue Welt retten. Ein Büchlein, an dem Emotionen kleben.

Was also – so ist die Schlüsselfrage des Stücks – veranlasst jemanden, diesen Schatz herzugeben, um Rabinovicz für ein paar Stunden aufzuhalten. Steckt der Mörder dahinter? Spielt die NS-Vergangenheit eine Rolle?

Letzteres liegt nahe, weil der Hauptverdächtige im bevorstehenden Prozess ein Verleger ist, der hauptsächlich Bücher über den Holocaust auf den Markt gebracht hat. Während einer Kreuzfahrt soll der finanziell abgeschlagene Mann ohne Erfolg versucht haben, einen Milliardär zu überreden, sich für einen Kredit einzusetzen. Ein Anliegen das höhnisch in den Wind geschlagen wurde. Als Kabinennachbar war Rabinovicz Zeuge des Gesprächs, und nun ist er felsenfest von der Täterschaft des Verlegers überzeugt. Doch im Verlauf des Flughafen – Gesprächs beginnen die in ihm die Zweifel zu nagen.

Werner Galas bohrt in der Rolle des Fremden nach, bringt einen Liebhaber der Milliardärsgattin als möglichen Täter ins Gespräch und stellt alles in der Manier eines zweiten Horst Tappert in Frage. Harald Heinz dagegen vermittelt gekonnt das Gefühl aufkeimender Unsicherheit, das noch durch zwei Nebenrollen (gespielt von Gerlind Eschenhagen und dem Zimmertheater-Urgestein Jochen Ballin) gesteigert wird. Erstaunlich nur, dass sich sein Rabinovicz so offen auf das Flughafen-Gespräch mit einlässt. Ein dramaturgischer Mangel des Stücks, den der 1930 in Wien geborene Autor wohl nicht bedacht hat.

Die vielen Rätsel werden zum Schluss natürlich wie bei jedem guten Krimi aufgelöst. Hier mehr zu verraten, hieße jedoch, der konzentrierten Regiearbeit der Zimmertheater-Prinzipalin Ute Richter den Spannungsbogen zu nehmen. Die Antworten gibt’s in der Hauptstraße 118. Garantiert.

 

Mannheimer Morgen 29 10. 2002

Zwei Seiten der Wahrheit

Schauspiel : „Das Urteil“ im Zimmertheater Heidelberg

Von Ralf-Carl Langhals

Auf Flughäfen ereignen sich die merkwürdigsten Dinge, sind sich doch Begegnungsstätten unterschiedlichster Menschen und Kulturen. Der jüdische Antiquar Rabinovicz wundert sich daher nicht, als er bei einer Zwischenlandung in New York gebeten wird, seinen Platz für den Weiterflug nach Hamburg einem eiligen Reisenden zur Verfügung zu stellen. Er hilft gerne aus, schließlich darf er am nächsten Morgen erster Klasse weiterfliegen und erhält aus Dankbarkeit ein kleines Büchlein.

Das Präsent entpuppt sich als bibliophile Rarität, just jene zweisprachige Haggada die der Büchernarr seit Jahren erfolglos suchte. In der Vip-Lounge trifft er auf einen verstockten Fremden, man kommt ins Gespräch. Ute Richter hat Paul Hengges „Das Urteil“ für ihr Heidelberger Zimmertheater entdeckt und mit trefflichen Schauspielern besetzt, die sich im stilechten Warteraum der gehobenen Reisenden vorsichtig beschnuppern, misstrauisch umkreisen und auch trefflich streiten können. Die Begegnung ist zunächst unspektakulär, doch bald entspinnt sich ein Versteckspiel um ein anscheinend belangloses Gesprächsthema, die Zeitungslektüre eines hochkarätigen Mordfalls, an dem, wie sich zunehmend herausstellt, beide Gesprächspartner in hohem Maße beteiligt sind.

Rabinovicz ist Zeuge der Anklage, der Fremde bester Freund des Angeklagten. Diese Konstellation liefert bestes Material für eine spannende Kriminalgeschichte, oder treffender für einen vielschichtigen Gerichtsfilm, weniger eignet sich eignet sich der Stoff dagegen für ein Theaterstück: Die Rückblenden und Geschehnisse rund um den Mord an einem Milliardär auf einem Kreuzfahrtschiff können hier nur erzählt werden, und so verliert sich der Abend oft in einer verwirrenden Detailfülle, die zu Spielfilmausmaßen von Billy Wilders „Zeugin der Anklage“ taugen würde.
Diese Tatsache erstaunt wenig, wenn man weiß, das Paul Hengge bekannter Drehbuchautor ist und unter anderem Drehbuch für „Hitlerjunge Salomon“ geschrieben hat. Auch hier ist der Kriminalplot mit Erlebnissen und Befindlichkeiten um dieses schreckliche Kapitel der deutsch-jüdischen Vergangenheit verschränkt, die Hengge mit vielen klugen Betrachtungen und sensiblen Einfühlungsvermögen durchsetzt.

Werner Galas als aus Freundschaft blinder Journalist und Intrigant zeigt eindrücklich die wirkliche Größe seiner Figur am überraschenden Ende des zweistündigen Theaterabends, und Harald Heinz’ Darstellung des gemütigen wie aufrichtigen Antiquars ist eine solide Charakterstudie eines zurückgezogenen Menschen, der nichts falsch machen will. Jüdischer Witz und Altersbitterkeit kommen dabei ebenfalls nicht zu kurz, er ist ein stiller Held, den man kennenlernen möchte. Ein Stück über Verblendung, parteiischen Übereifer, aber auch über das Entstehen einer neuen und spannenden Freundschaft.