David Faulkner war bis vor kurzem ein gefeierter Schauspieler, der sich die Rol – len aussuchen konnte. Und ein Schürzenjäger vor dem Herrn – die Zahl seiner Bett-Kurzgeschichten ist beeindruckend. Seine Ehefrau Jenny weiß davon und erträgt es, wie auch immer. Dann ist plötzlich, von einem Tag auf den anderen, alles anders: David erleidet einen Schlaganfall, sitzt fortan im Rollstuhl und zieht sich nach dem Krankenhausaufenthalt in sein Landhaus in Frankreich zurück, wo ihn Jenny betreut und komplett vor der Außenwelt abschottet. Das Blatt hat sich gewendet, die Karten sind auf brutale Weise neu gemischt. Eine beklemmende Situation, die viele Fragen aufwirft. Wie kommen die Eheleute damit zurecht, unvermutet in dieser Weise einander konfrontiert zu sein? Trägt ihre Beziehung oder ist die Behinderung der Auslöser für ihre Beendigung? Akzeptiert David seine neue „Rolle“ oder zerbricht er an ihr? Der aus Australien stammende Autor Peter Yeldham, Jahrgang 1927, hat mit seinem jetzt im Heidelberger Zimmertheater unter der Regie von Ute Richter uraufgeführten Stück „Einst ein Tiger“ eine spannende Konstellation von Charakteren und Handlungen entworfen, die immer wieder mit überraschenden Wendungen aufwartet. Auf dem Theater bisher eher durch Boulevardstücke wie „Auf und davon“ bekannt geworden, widmet sich Yeldham hier einem durchaus anspruchsvollen Thema, gleichwohl durch seine spritzig geschriebenen und sarkastisch gewürzten Dialoge mit unterhaltsamem Wert. Die ZimmertheaterChefin bewies einmal mehr einen guten Riecher, sich das Stück für die Uraufführung zu sichern. David, ein Mann in den Endfünfzigern, kann durch den Schlaganfall kaum noch sprechen und nicht mehr gehen. Seine Gedanken, Empfindungen und Gefühle kann er nur gegenüber dem Publikum äußern, dem er von seiner Verzweiflung über dieses Leben, seiner tiefen Resignation und dem Wunsch, es bald zu beenden, berichtet. In Rückblenden zeigt das Stück, wie er – ganz seinem zweifelhaften Ruf folgend – die Verlagsleiterin Jenny hemmungslos anmacht, die nach anfänglich kühler Abweisung schließlich sowohl seine Liebeserklärung als auch den Heiratsantrag annimmt, vorsichtig optimistisch: „Ja, ich glaube, ich will“. Und jetzt? Der Gedanke, dass sie nun zu seiner Krankenschwester „degradiert“ wird, ist ihm unerträglich.
Jenny, die von Antonia, seiner letzten großen Liebe, weiß, lädt diese ohne Davids Wissen kurzerhand in ihr Haus ein. Ihre Hoffnung: Der emotionale Schock des Wiedersehens von Antonia könnte bei ihm heilsame Veränderungen auslösen. Sie ist bereit, ihn freizugeben, sollte sich David fortan für ein Leben mit Antonia entscheiden. Ist das kühne Wiedersehensarrangement mit der Konkurrentin Kalkül oder Selbstopferung? Vielleicht von beidem etwas. Antonia verbringt eine „erfolgreiche“ Nacht mit David, reist aber allein wieder ab, verwirrt darüber, dass David beim Liebesakt Jennys Namen gerufen hat. Diese wiederum kann ihn, der sich nun völlig alleingelassen fühlt, gerade noch von einem Suizid abhalten und bringt ihn dazu, von seinem Rollstuhl aufzustehen und mehr als nur einen Schritt zu gehen – in eine neue Zukunft mit ihr, die das Leben so akzeptiert, wie es ist. Der Kreis schließt sich mit seinem Satz: „Ja, ich glaube, ich kann“. Ute Richter, die auch für das zeitlos elegante, sparsam möblierte Bühnenbild verantwortlich zeichnet – variable Wände mit transparenten Gitterstrukturen und rot-schwarzen Quadraten – hat dem Stück einige kluge Striche verordnet und auch die Schlussszene leicht verändert, was nicht von Nachteil ist. Mit untrüglichem Gespür für das Wesentliche reiht sie die fein durchgearbeiteten, knapp gehaltenen und häufig kammerspielartigen Szenen aneinander und führt die Charaktere in einer nie abreißenden Atmosphäre dichter Spannung zusammen. Michael Schernthaner gibt den David in der ganzen Bandbreite seiner Existenz: als unverschämt von sich selbst überzeugten, dabei ein Stück auch liebenswerten Frauenhelden und als mit versteinerter Resignation und bisweilen grenzenloser Traurigkeit im Rollstuhl Sitzenden – ein mehr als gelungener Auftritt. Christina Dom, die mit ihm eine berührende Szene der gegenseitigen Annäherung teilt, beeindruckt als elegante, kühlkontrollierte Geschäftsfrau ebenso wie in ihrer Angst vor der Zukunft und ihrer Liebe zu David, den sie mit allen Mitteln ins Leben zurückholen will. Mit ihrer plötzlichen Präsenz als Überraschungsgast, ihrem sprühenden Esprit und ihrer forschen Offenheit überzeugt Irina Wrona als Antonia, die auch den kurzen Part der grässlich gutgelaunten Krankenschwester im „Wie-geht’s-uns-dennheute?“-Duktus meistert. Das Publikum war begeistert: Stürmischer, lang anhaltender Applaus mit etlichen Bravi. Wie weit Liebe gehen kann Umjubelte Uraufführung von Peter Yeldhams „Einst ein Tiger“ im Heidelberger Zimmertheater.
Von Arndt Krödel Rhein-Neckar-Zeitung 27./28. September 2014